Willkommen

Liebe Besucher:innen des steirischen herbst,

zu den Freuden der Kunst gehört, dass man sich schick anzieht, ausgeht und eine besondere Veranstaltung an einem besonderen Ort besucht, sei es eine Ausstellung im Museum oder eine Aufführung im Theater. Wir alle wissen, wie sehr uns das in den letzten Monaten abgegangen ist.

Heuer lädt Sie der steirische herbst erneut dazu ein, auszugehen – allerdings auf eine andere Art.

Beim Museums- oder Theaterbesuch verlassen wir den Alltag und betreten die Sphäre der hohen Kunst. Die Erwartung von etwas Neuem ist aufregend, das Unbekannte schillernd. Jedoch gehören die blitzblanken Räume des Museums und die gemütlichen Sessel im Theatersaal auch einer Sphäre des Vorhersehbaren an; sie geben uns jenes Gefühl von Sicherheit, das uns in unserem eigenen Leben fehlt. Weiße Wände verraten uns, dass der Dreck, den wir in einer Galerie vorfinden könnten, kein wirklicher Dreck ist, sondern Kunst. Und sollte uns die Geschichte auf der Bühne in eine zu große Aufregung versetzen, können wir uns stets darauf besinnen, dass diese Menschen schauspielern und Desdemona nicht wirklich stirbt.

Das ist ein zentraler Grund, warum die historische europäische Avantgarde diese Sicherheit immer hinter sich lassen und die Kunst mit dem Leben vereinen wollte – mit dem Ziel, eine vollkommene Existenz zu erreichen, in der die Kunst keine kontrollierte Alternative zum Leben mehr darstellt, sondern ein integraler Bestandteil davon ist. Das Leben wird von Kunst durchzogen und immer ästhetischer, aber die Kunst geht Risiken ein, die nur im echten Leben existieren, wo nichts garantiert ist. Und jetzt, wo die Frage der Sicherheit auf der ganzen Welt nicht nur zu einer politischen, sondern zu einer hygienischen Obsession wird, wird es Zeit, uns selbst daran zu erinnern, dass es gerade dieser Mangel an Garantien ist, der das Leben auszeichnet.

Als ein Festival, das vom Erbe der historischen Avantgarde zehrt, hat sich der steirische herbst oft in den Außenraum, das Reale, das Alltägliche und das Populäre gewagt. In dieser Tradition laden wir Sie auch heuer ein, bei zahlreichen Projekten Kunst außerhalb ihres starren Korsetts zu erleben.

Am Hauptbahnhof werden Sie durch ein kunstvoll gestaltetes Tor diese Welt betreten, in der Kunst und Leben ineinander übergehen und Sie das eine von dem anderen nicht immer auf Anhieb unterscheiden können. In den Parks und Straßen von Graz werden Sie etwas sehen, das möglicherweise eine Performance ist, möglicherweise aber auch nicht. Sie werden Künstler:innenplakate sehen, die Sie vielleicht nicht gleich als solche erkennen. Sie werden womöglich auf Ordnungshüter:innen treffen, die in Wahrheit gar keine sind. Vielleicht erhalten Sie auch einen Brief von einer Künstlerin oder einem Künstler oder werden überrascht von einem philosophischen Memorial bei einem Denkmal, das Sie oft gesehen, aber nie bemerkt haben. Womöglich probieren Sie ein Gericht, das Sie nach Anleitung eines weit entfernten Menschen zubereitet haben. Vielleicht werden auch Sie Teil des Projekts, denn ohne Sie kann all dies nicht geschehen. Sogar in der Film- und in der Modebranche arbeitet man heute mit „echten Menschen“ statt Schauspieler:innen und Models. Das ist ein Zeichen der Zeit.

Wie bei vergangenen Ausgaben werden die Werke des heurigen steirischen herbst allesamt neu sein, nur in Graz und der Steiermark stattfinden – in dieser Stadt und dieser Region, die für sich bereits wunderschöne Bühnen sind – und nur jetzt, in diesem historischen Augenblick. Einzigartig und unvergesslich wird es sein.

Das Festival wird sich auch mit der aktuellen politischen Situation auseinandersetzen. Wir produzieren heuer „Lageberichte“ als Online-Fernsehformat mit wöchentlich wechselnden Künstler:innen. Das Aufsteirern, die Graz-Wahl am 26. September und die noch immer nicht aufgearbeitete Geschichte der Stadt sind nur einige der Themen, die die Künstler:innen aufgreifen. Treffen Sie sie auf den Straßen und sehen Sie sie am nächsten Tag online!

Wir haben auch vieles andere für Sie vorbereitet. Im Orpheum werden Sie in drei großen Bühnenproduktionen mit Videospielen, spiritistischen Séancen und ernsten Fragestellungen rund um unsere Gegenwart und Zukunft konfrontiert. In der Steiermark werden echte Menschen, Jung und Alt, zu Teilnehmer:innen eines Theaterstücks, das die Themen aufgreift, die sie derzeit bewegen. Bei einem Pop-up-Markt können Sie Kunst auf Papier sehen, berühren und kaufen. Außerdem gibt es Gespräche mit prominenten Denker:innen, sowohl online als auch vor Ort, denn zum Nachdenken bietet diese merkwürdige Zeit, die wir durchleben, jede Menge Gelegenheit.

Ich lade Sie dazu ein, gemeinsam mit den Künstler:innen ein Abenteuer des Alltäglichen zu erleben. Und dies ist womöglich The Way Out – der Weg hinaus – nicht nur für uns alle in einem wortwörtlichen Sinn, sondern auch in einem metaphorischen für die Kunst, die nach ihrem Platz in der Gesellschaft sucht.

Mit herzlichen Grüßen,
Ihre
Ekaterina Degot