An alle, die ich lieben werde,

Bitte verzeih, dass ich so frei bin, Dir zu schreiben, obwohl wir uns gar nicht kennen. Ich tue das aus einem Impuls heraus, der stärker ist als Manieren und etablierte Umgangsformen.

Bevor mich Angst, Scham oder Anstand doch noch davon abhalten, schreibe ich Dir, um Dir zu sagen, dass ich Dich liebe. Vielleicht wurdest Du bereits geliebt. Oder vielleicht glaubst Du, Dich habe noch nie jemand geliebt. Wenn ich für mich selbst sprechen soll, würde ich sagen, die Liebe zu den Eltern ist voller Fallstricke, die romantische Liebe ist immer endlich und die Liebe in Paarverhältnissen verkehrt sich früher oder später in ihr Gegenteil. Vielleicht hast Du dieses Jahr, so wie ich, Angst davor gehabt, zu sterben, ohne zu wissen, ob Du jemals wirklich geliebt wurdest oder ob Du selbst jemals jemanden wirklich geliebt hast. Deshalb habe ich beschlossen, den Verdacht der Lächerlichkeit auf mich zu nehmen, dem jede öffentliche Äußerung von Liebe für einen andern in der Gesellschaft ausgesetzt ist, und Dir meinen Enthusiasmus mit diesem Brief mitzuteilen. Einer Sache will ich mir sicher sein: Dich geliebt zu haben. Ich weiß nicht, ob Du es fühlen kannst. In genau diesem Augenblick liebe ich Dich, während Du mit Deinen Augen die Spuren entzifferst, die ich durch die Bewegung meiner Finger für Dich auf einen digitalen Bildschirm eingemeißelt habe, dieselben Spuren, die jetzt Deinen Sehnerv entlangwandern und Dein Gehirn erreichen, zu Bildern oder Tönen werden. Ich schreibe Dir, damit Du Bescheid weißt. Damit Du diese Erfahrung machst. Lass Dich, wenn Du möchtest, ganz vom Gefühl des Geliebtwerdens einnehmen. Sollte Dich diese Nähe oder diese Erfahrung einschüchtern oder Dir unangenehm sein, kannst Du jederzeit damit aufhören, diesen Brief zu lesen. Meine Nachricht ist eine affektiv-konzeptuelle Operation, die nur zu einer Realität wird, wenn Du sie in einem Akt bewussten Lesens aktivierst.

Und da Du weiterliest, sage ich Dir: Meine Liebe zu Dir ist radikal politisch. Ich nehme Dich an mit allem, was Du bist, mit Deiner ganzen Geschichte. Es geht mir weder darum, diese Geschichte zu überblicken, noch sie zu leugnen. Man könnte mir vorwerfen, ich gäbe vor, eine Geschichte zu lieben, die ich nicht kenne. Doch kennen wir alle unsere je eigene Geschichte? Unsere je eigene Geschichte sprengt die bewusste Erinnerung. Und doch gibt es sie, sie ist hier, vor meinen Augen, in ihrer opaken Gegenwart, bereit, geliebt zu werden.

Ich richte mich an Dein physisches Dasein, das die Gewalt der Norm überwindet, an Deine androgyne Existenz, an Deine nicht-binäre Wirklichkeit, an Deinen Körper vor der Normgebung durch den Kapitalismus, vor seiner Reduktion auf ein Instrument der industriellen Produktion. Ich liebe Dich nicht, weil Du männlich wärst oder weiblich oder keins von beiden. Ich liebe Dich nicht aufgrund Deiner Hautfarbe. Ich liebe Dich nicht wegen der Form Deines Körpers oder Deiner Fähigkeit, auf zwei Beinen zu gehen. Ich liebe Dich nicht, weil Du gesund bist, oder weil Du den Wohlstand förderst. Ich liebe Dich nicht einmal für Deine Ideen. Ich richte mich an Dich als eine lebende, sich stets wandelnde, irreduzible Entität. So will ich Dich: im Wandel.

Um mich in die Lage zu versetzen, Dich auf diese Weise zu lieben, muss ich mich vom Hass auf alles lösen, was nicht der gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Norm entspricht, die mir seit meiner Kindheit eingeflößt wurde. Ich liebe Dich mit meinem physischen Dasein, das die Norm überwunden hat, mit meiner androgynen Existenz, mit meiner nicht-binären Wirklichkeit. Wie ich Dir meine Liebe zuströmen lasse, versuche ich, die Erinnerung meines Körpers auseinanderzufalten, meines Körpers, der sich dagegen wehrt, auf ein Instrument des Kapitalismus reduziert zu werden. Ich liebe Dich in meinem Wesen vor der Geschlechtertrennung bei der Geburt, die mir Sexus und Gender zuwies, vor der Kodifizierung meiner Hautfarbe durch die Logik von Kolonialgeschichte, Rassismus, Industriegesellschaft. Ich liebe Dich vor und nach dem kolonialistischen Kapitalismus. Ich liebe Dich inmitten der Strahlung, die immer noch von Fukushima und Tschernobyl ausgeht. Ich liebe Dich mit meinen vom SARS-CoV-2-Virus modifizierten Zellen, und Deinen. Ich liebe Dich vor und nach der Existenz von Strom und Internet, vor und nach der Evolution im Tierreich, vor und nach dem sechsten Artensterben.

Vielleicht ist Dir schon einmal Tierliebe, Pflanzenliebe, mineralische Liebe, Sternenliebe begegnet. Vielleicht hast Du gespürt, wie Dich Tiere, Pflanzen, Gestein, Sterne liebten mit einer lebhaften und diffusen, ansteckenden Leidenschaft. Vielleicht hast Du eine Stadt geliebt und hast gefühlt, wie sie Deine Liebe erwidert. Vielleicht hast Du Dich in ein Musikstück verliebt, ein Buch, ein Kunstwerk, und hast gefühlt, wie sie Deine Liebe erwidern. Um diese Art von Liebe geht es mir. Alle Religionen und staatlichen Technologien haben versucht, diese Liebe für sich zu vereinnahmen, sie zu bezähmen, sie zu kontrollieren, sie zu fragmentieren. Denn ihre Macht ist revolutionär. Jetzt weißt Du’s: Ich liebe Dich als das Tier, das Du bist, mit Deiner vegetativen, Deiner mineralischen, Deiner zu den Sternen zurückreichenden Erinnerung. Ich liebe die unverbrüchliche Vielfalt in Dir, Dein Hirn als ein Ort, der auf Jahrtausenden gründet. Ich liebe Dich als das Kunstwerk, das Du bist. Diese Liebe kann Dir niemand wegnehmen. Das ist, so scheint mir, der einzige Ausweg.

Es wäre großartig, wenn ich einen Brief von Dir bekäme oder Dich sogar treffen könnte. Wenn ich die Gegenseitigkeit spüren könnte. Wie ich entlang der Hügel an der Mur spazieren ging, streifte mein Blick die Pfade, die in den Park führen, und ich stellte mir Dich vor, wie Du da entlanggingst. Später, als ich im Hotel eintraf, kam es mir so vor, als könnte ich Dich sehen, im selben Zimmer, im selben Bett, schlafend, während sich Deine Träume ausbreiteten wie ein Nebel, in den ich eintreten könnte. Es wäre wunderbar, wenn wir einander begegnen könnten auf der Doppelwendeltreppe der Burg oder wenn das Kunsthaus für uns beide eine Art gemeinsame Prothese darstellen würde. Wenn es mir meine labile Gesundheit erlaubt, würde ich Dich gern an irgendeinem Tag in diesem Jahrhundert auf einen Tee treffen und erfahren, welchen Begriff Du Dir von der Schönheit machst. Aber es ist eigentlich noch schöner, zu spüren, wie sich genau jetzt, in diesem Augenblick, aufgrund einer eigentümlichen Telepathie, meine und Deine Gefühle (was auch immer Deine Gefühle sind) begegnen und ineinander übergehen.

In Liebe,
Paul B. Preciado

Aus dem Englischen von Elise Schmit


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