Der Ausweg zur Kunst?
Eine polemische Einführung
Es geschah während der Lockdowns in der COVID-19-Pandemie. Wie so viele andere musste auch die Kunst von zuhause arbeiten. Was, wie sich herausstellte, gar nicht so schlimm war. Nicht nur boomte der Kulturkonsum mit Streaming-Diensten und deren Angebot an Spielfilmen, Opern, Theaterstücken und Dokumentarfilmen, auch die Kreativität von Amateur:innen blühte auf: Opern, Tänze und Gemälde aus Museen wurden in den sozialen Medien auf skurrilste Weise nachgestellt. Für viele Künstler:innen war es nichts Neues, Kunst am Küchentisch zu produzieren, und viele der Formen, die die sozialen Medien hervorbringen, ähneln sogar den postkonzeptionellen Praktiken der Kunst. Seltsamerweise blieb jedoch die zeitgenössische Kunst vom kulturellen Boom im Lockdown weitgehend unberührt. Ihre Institutionen wurden nicht vermisst, im Gegensatz zu Theatern und selbst traditionellen Museen, und das beruhte anscheinend auf Gegenseitigkeit. Während sogar die Haute Couture und Hollywood damit beschäftigt waren, ihre Strategien zu überdenken, hat unsere eigene Zunft hauptsächlich darauf gewartet, dass die Pandemie vorüberzieht, und dabei die kommenden Paradigmenwechsel diskutiert.
Mit diesen Fragen im Hinterkopf haben wir vom steirischen herbst unsere 2020er-Ausgabe, Paranoia TV, gestaltet, deren Inhalte größtenteils für die Rezeption im Netz geschaffen wurden. Im Nachhinein betrachtet war dies weniger ein Plädoyer dafür, dass die Kunst in die Augmented Reality abwandert, sondern vielmehr ein Aufruf an sie, wieder in die Privatsphäre vorzudringen, in der Fernsehen die Hauptbeschäftigung ist. Mit einer ähnlichen, vielleicht idealistischen Absicht versucht auch der steirische herbst ʼ21 wieder, „normale Menschen“ zu erreichen – auch wenn unser Slogan diesmal The Way Out lautet –, mit vielen Veranstaltungen und Kunstwerken, die im Freien stattfinden und in einem Fall bis vor die eigene Haustür geliefert werden. The Way Out ist natürlich auch eine Metapher. Sie läuft darauf hinaus, aus den White Cubes der Kunstinstitutionen auszubrechen und in ästhetisch nicht sterile Umgebungen einzutreten, die direkte Konkurrenz mit Straßenlärm, visueller Verschmutzung und politischem Dreck zu wagen und dabei zu gewinnen oder zu scheitern.
Solche Absichten, die heiligen Hallen des institutionellen Raums zu verlassen, haben eine Vorgeschichte. Die Avantgarden des 20. Jahrhunderts waren ständig auf der Suche nach einem Weg von der Kunst ins Leben. Über die Grenzen der hohen Kunst hinaus nahmen sie Dinge ins Visier, die weder verkauft noch gesammelt werden konnten und manchmal nur knapp, wenn überhaupt, als Kunst akzeptiert wurden. Nach und nach entstand aus diesen außerinstitutionellen Praktiken ein neues institutionelles System. Sein mittlerweile globales Netzwerk produziert, zeigt und sammelt manchmal auch genau die Art von nicht gegenständlicher Kunst, von denen die Avantgarden träumten, von der Performance bis zu ephemeren konzeptionellen Vorhaben, von sozialen Projekten bis zum Video. Mit der Zeit wurde diese Selbstsabotage der hohen Kunst beziehungsweise ihrer oberflächlichen Merkmale (Schönheit, Form, kathartisches Potenzial, Affekt oder einfach nur „retinale“ Sichtbarkeit) zu einem erkennbaren Modus Operandi der zeitgenössischen Kunst, den alle Erstsemester der Kunstgeschichte kennen.
Heutzutage scheint sich dies jedoch zu ändern. Es wird immer offensichtlicher, dass diese Ästhetik ein meritokratisches Denken hervorgebracht und aufgewertet hat (gegen das die frühe Avantgarde keineswegs immun war). Demzufolge sind diejenigen, die die anti- und postästhetischen Gesten der zeitgenössischen Kunst verstehen und akzeptieren, etwas Besseres – auch in politischer Hinsicht, da sie offener, demokratischer und moderner eingestellt sind. Und natürlich gehört dieses privilegierte Wissen über eine Kunst jenseits der Kunst nur denen, die über den richtigen sozialen (und ethnischen) Hintergrund verfügen. In westlichen Demokratien mag dieser Gedanke nicht selbstverständlich sein, da er hier durch Reste sozialer Absicherung und die öffentliche Förderung der künstlerischen Autonomie verschleiert wird. Aber in „modernen Autokratien“ wie Russland oder Saudi-Arabien tritt diese Funktion der Kunst sehr deutlich zutage. Dort wird die Kunst ständig dazu benutzt, um zu beweisen, dass „wir besser sind als die anderen“, und zwar von allen: von den Regierungen, die ein politisches Druckmittel im internationalen Dialog suchen, bis hin zu den Künstler:innen selbst, die in ihrem eigenen Land einen gewissen Ausnahmestatus brauchen, um zu überleben.
Die Fähigkeit, bedrohten Künstler:innen Schutz zu gewähren, ist natürlich einer der großen Vorteile des institutionellen Systems, in dem die bildende Kunst operiert. Seine enorme Flexibilität – die es als eine seiner Grundfreiheiten festschreibt – ermöglicht es ihm, die unterschiedlichsten Praktiken zu bewahren und zu schützen. Alles, was ein:e Künstler:in produziert, egal in welchem Medium, in welcher Form oder in welcher physischen Gestalt, kann als Kunst bezeichnet werden und wird vom System akzeptiert und irgendwie absorbiert – selbst wenn weder Medium noch Form noch physische Gestalt vorhanden sind. Sogar der früher eher konservative Kunstmarkt wandelt sich und öffnet sich für Non-Fungible Tokens und andere flüchtige Tauschobjekte. Eine Diskussion nach dem Motto „Das ist keine Kunst“ ist unter zeitgenössischen Kunstschaffenden kaum vorstellbar, zumindest nicht in der gleichen Weise wie eine analoge Diskussion über Literatur oder Theater, mit denen sich Literatur- und Theaterbetriebe vor allzu radikalen Experimenten schützen könnten. Die bildende Kunst versteht sich als Zufluchtsort für alles, was in der Filmindustrie, der Architektur, der Musikwelt, in den großen Theaterhäusern, im Verlagswesen oder auch in der Wissenschaft und in der Politik als zu schwer verdaulich und avantgardistisch gilt.
Dennoch gibt es einen „Das ist keine Kunst“-Diskurs: Er richtet sich gegen alles, was „nicht radikal genug“ ist, alles, was als Kitsch gilt, der hier in einer Weise definiert wird, die an den modernistischen Kritiker Clement Greenberg erinnert, nämlich durch seine Massentauglichkeit. Das Kunstsystem neigt also dazu, allem sofort zu misstrauen, was einem allgemeinen Publikum gefallen könnte. Es funktioniert so, dass es uneingeweihte Zuschauer:innen nicht wirklich willkommen heißt oder gar benötigt, insbesondere weil es durch Kunststudiengänge zu viel von einem eingeweihten Nischenpublikum produziert.
Auch diese historische Entwicklung geht auf die frühe Avantgarde zurück, die sich als kühne, selbsternannte „Boheme“-Elite positionierte. Sie stachelte die Bourgeoisie auf und provozierte sie, brauchte aber auch echte Eliten, mit denen sie sich verbünden konnte. Sammler und Mäzene aus den finanziellen und politischen Machtzentren haben die Kunst seit dem frühen 19. Jahrhundert unterstützt. In jüngster Zeit hat die Kunst – vielleicht um die Turbulenzen der neoliberalen Erosion einst uneingeschränkter staatlicher Unterstützung zu überstehen – ein Bündnis mit der Wissenschaft gesucht. Dieses wächst immer noch und eröffnet den Künstler:innen selbst viele neue Perspektiven. Gleichzeitig schafft es aber auch mehr und mehr abschreckende Hindernisse für ein breiteres Publikum.
Der Blick auf die Avantgarde als Aushängeschild systemischer Überlegenheit wurde stark durch den Kalten Krieg geprägt, auf dessen Höhepunkt der steirische herbst gegründet wurde. Damals wurden die Avantgarde und die zeitgenössische Kunst oft herangezogen, um die Vorzüge des westlichen Systems gegenüber dem Rest der Welt darzustellen, wo angeblich Kitsch oder im besten Fall Folklore dominierten. Natürlich existierte Folklore auch in Teilen des Westens wie der Steiermark, wo sie für Lokalpatriotismus und manchmal auch dunklere Kräfte stand. Der steirische herbst wurde als Versuch gegründet, mit diesem Bestand neu umzugehen und eine fruchtbarere Verbindung zwischen modernen Experimenten und regionalen Kunstformen – auch jenseits des Eisernen Vorhangs – zu suchen. Dies hat zu einer grundlegenden Spannung geführt, mit der die verschiedenen Intendant:innen des Festivals und die teilnehmenden Künstler:innen auf sehr unterschiedliche Weise umgegangen sind. Einige haben das Festival als eine Intervention oder einen Einschnitt im Alltag der Stadt verstanden, eine Herausforderung für ihren Konservatismus, während andere bereitwillig auf populäre Formen wie Zirkus oder Varietétheater zurückgegriffen haben, um ein breiteres Publikum anzusprechen. Diese Bemühungen waren stets politisch kodiert – als Versuch, das binäre Denken des Kalten Krieges in der einen oder anderen Richtung zu unterlaufen.
Heute dürfte der Kalte Krieg einer fernen Vergangenheit angehören, aber die ihm zugrunde liegenden Konflikte bestehen weiter. Der längst überfällige Marsch des dekolonialen Denkens durch die Kunstinstitutionen hat die Geschichte der westlichen Moderne und ihren Ausschluss von allem bis auf einen kleinen Satz formaler Praktiken dezentriert. Dies hat zur Wiederentdeckung vieler großer, zuvor vernachlässigter Künstler:innen beigetragen. Gleichzeitig entstehen neue (falsche) Dichotomien. So lässt die simple Übertragung des amerikanischen (Anti-)Rassismus auf mitteleuropäische Verhältnisse im Zuge von Black Lives Matter die real existierenden innereuropäischen Rassismen und Diskriminierungsmuster völlig außer Acht. Sie erzwingt auch eine Politik der Repräsentation, in der das Recht auf eine ästhetische „Andersartigkeit“ (die eine Art des Erzählens, figurative Malerei, Kunsthandwerk, literarischen Esprit oder Theatralität umfassen könnte) nicht allen zugestanden wird. Stattdessen wird sie stark reglementiert und rassifiziert, und zwar als „minoritäre“ Stimme, die zu einer kleinen und aufgeklärten, von den Rechten als „woke“ diffamierten Minderheit spricht. Sosehr man sich dagegen sträuben sollte, auf diesen Trick hereinzufallen, so sehr verdeutlicht die Hartnäckigkeit des Themas, dass das große Problem von heute die allumfassende soziale Isolierung der Kunst ist. Kann die zeitgenössische Kunst überhaupt überleben ohne die tiefe Überzeugung, allem überlegen zu sein, was nicht zeitgenössisch genug ist?
Heute scheint der Ausweg aus diesem Dilemma oft im Begriff der „Fürsorge" (engl. care) zu liegen, was in Anbetracht der allgegenwärtigen Beschäftigung mit Gesundheit und ihrer Fragilität nach der Pandemie kaum überrascht. „Fürsorge“ oder „Sorge“ werden dabei sehr wörtlich genommen und erhalten eine psychologische Dimension, neben „Pflege“, wo man – vielleicht zu Recht – davon ausgeht, dass das Publikum schwach, erschöpft, infantil und viktimisiert ist und eher Sicherheit als Kritik, eher Trost als Mobilisierung, eher Führung als Unterhaltung braucht. Es ist eine große Verantwortung für eine:n Kurator:in, ein:e solche:r Pfleger:in zu werden, Künstler:in und Publikum vor einer feindlichen Umwelt und voreinander zu schützen.
Man könnte sich jedoch auch einen ganz anderen, konfrontativeren Begriff von Fürsorge vorstellen, eine „I do care“-Haltung gegen Melania Trump, wie sie historisch gesehen für das soziale und politische Engagement der Kunst entscheidend war. Diese Ethik beinhaltete eine radikale Anteilnahme sowohl an den Menschen als auch an der Kunst. Das bedeutete, Macht und Politik infrage zu stellen, aber auch eine kritische Haltung gegenüber einem Publikum einzunehmen, das sich nicht genug für die Kunst und ihre Besonderheit interessiert, genauso wie es sich nicht für die meisten brennenden Fragen der Zeit interessiert.
Heutzutage gibt es keinen Mangel an brennenden politischen und sozialen Fragen oder Debatten und zweifellos befasst sich die zeitgenössische Kunst mit ihnen. Dabei springt sie mitunter von Thema zu Thema und macht sich sogar eines platten „Inhaltismus“ schuldig, indem sie eine verworrene und zugleich dogmatische Interpretation dessen bietet, was man auch in der Zeitung lesen kann. Diskussionen über die Autonomie der Kunst gelten als reaktionär, während ihre institutionelle Autonomie durch ihre akademischen Verflechtungen weiter zugenommen hat. Im Gegensatz zu den Museen, die immer noch dafür kritisiert werden, in einem Elfenbeinturm zu sitzen, können es sich kleinere Kunstinstitutionen und gemeinnützige Einrichtungen durchaus leisten, ohne ein anderes Publikum als Künstlerkolleg:innen und Kritiker:innen auszukommen, für die sie einen sicheren Raum und eine fürsorgliche Umgebung schaffen. Heutzutage sind Kunstinstitutionen oft gezwungen, in einem Modus der imaginären aktiven Teilnahme zu arbeiten, da das reale Publikum einen großen Bogen um sie macht. Diese Selbstisolierung stellt einen blinden Fleck der zeitgenössischen Kunst dar, vor allem, wenn sie aus sozialen, aktivistischen, engagierten und partizipatorischen Praktiken besteht.
Warum versuchen wir als Kurator:innen nicht, zur Abwechslung einmal in eine andere Richtung zu arbeiten? Diskursiv – der Fiktion mehr Raum geben, den Geschichten, deren Moral nicht so offensichtlich ist, den Nuancen und schließlich der Dialektik. Um unseren Wohlfühlbereichen und sicheren Räumen zu entkommen, um uns zu weigern, ständig unter uns zu sein, was auch immer dieses „unter uns“ sein mag, und um anderen das Recht zu geben, über uns zu sprechen und zu urteilen. Wir müssen gegen Dogmen ankämpfen und feststellen, dass sogar einige Netflix-Serien einen differenzierteren Blick auf soziale Kontroversen bieten als viele kuratorische Projekte. Institutionell müssen wir versuchen, offener für ein sehr unterschiedliches Publikum zu sein, in erster Linie für Einheimische, aber auch für diejenigen, die extra angereist sind, und zwar nicht, indem wir die Kunst einfacher machen, sondern umgekehrt: indem wir sie so komplex machen wie das Leben selbst. Vielleicht lässt sich so sogar das Problem des sogenannten Universalismus und seines falschen Gegensatzes mit dem Lokalen und dem Besonderen lösen.
Vielleicht sollten wir im öffentlichen Raum für die eigentliche Öffentlichkeit arbeiten. Wie Theaterschauspieler:innen und Regisseur:innen es manchmal tun, könnten wir uns weigern, Aufführungen ohne Publikum und nur für die Presse zu machen. Wir könnten die übliche Praxis überdenken, Fotos von Installationen immer um acht Uhr morgens zu machen, wenn das Publikum noch nicht da ist. Kunstwerke sehen viel besser aus, wenn das Publikum im Bild ist.